Markendienst in HORIZONT: Sein und Schein im Marketing
Christian Bachem über die Lage der deutschen Werbeindustrie
19. Juni 2018, Text: Jürgen Scharrer, HORIZONT
"Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein ist im Marketing so groß wie nirgendwo sonst."
Die deutsche Werbeindustrie marschiert an der Spitze des technischen Fortschritts, sie liebt alles, was mit Künstlicher Intelligenz, Algorithmen und disruptiven Ideen zu tun hat. Aber wie ist die Lage wirklich? Im Interview mit HORIZONT Online sagt Christian Bachem von der Beratungsagentur Markendienst: "Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein ist im Marketing so groß wie nirgendwo sonst. Die Marketing-Verantwortlichen laufen immer wieder Gefahr, zu schnell auf Hypes aufzuspringen, um sich auch unternehmensintern mit irgendwelchen Buzzwords zu profilieren." Inzwischen habe aber ein Umdenken eingesetzt, Bachem ist überzeugt: "Wir werden eine Art Reset im Marketing sehen."
Bachem, der vor ein paar Monaten von Companion zu Markendienst gewechselt ist, äußert sich auch kritisch zu Google, Facebook und dem allzu naiven Glauben an die Wirkungsmacht von Cookies und Targeting.
Herr Bachem, wie tief sitzt noch der Schock nach dem Datenskandal um Facebook und Cambridge Analytica? Nichts von dem, was da passiert ist, war ja wirklich überraschend oder vorher nicht im Kern bekannt – nur dass man bisher eben nicht groß auf die Datenschützer gehört hat. Jetzt drehte sich der Wind und Facebook musste reagieren. Dass sie die Verbindung zu Drittanbietern kappen, ist ein echter Einschnitt. Facebook drückt den Reset-Knopf, um seine Systeme danach wieder strukturiert für externe Apps zu öffnen. Facebook hatte ja selbst komplett den Überblick verloren, was Drittanbieter auf ihren Plattformen treiben. Das ist etwas, was man Mark Zuckerberg wirklich vorwerfen muss.
Die Unternehmen machen trotz allem keine Anstalten, Facebook den Rücken zu kehren. Die Plattform ist inzwischen für viele Unternehmen ein wichtiger Teil ihrer Infrastruktur – und damit meine ich keinesfalls nur Werbung, sondern vor allem die Service- und Dialogfunktionen. Deshalb fällt es auch so schwer, sich von Facebook loszusagen. Da ist eine große Abhängigkeit und gefühlte Alternativlosigkeit entstanden.
Vielleicht sind Facebook und Google ja deshalb so erfolgreich, weil sie für Werbungtreibende einfach unschlagbar effizient sind. Sprechen wir zunächst über die Google-Suche, die ja im Kern nichts mit Werbung zu tun hat. Google hat es geschafft, immer dann zur Stelle zu sein, wenn jemand ein konkretes Interesse äußert. Zusammen mit dem Auktions-Mechanismus ist das natürlich ein fantastisches Asset. Man sollte sich dennoch immer wieder vor Augen führen: Was ist der Auslöser dafür, dass jemand etwas bei Google sucht? Häufig ist es ein werblicher Impuls außerhalb von Google. Die Suchmaschine ist in der komfortablen Position, sich für Leistungen bezahlen zu lassen, die sie gar nicht selber erbracht hat.
Und Youtube? Das Problem bei Youtube ist, dass Sie als Werbungtreibender bis heute zu wenig neutrale Wirkungsnachweise bekommen. Wenn Sie von Google für Youtube bestimmte Zahlen haben wollen, lautet die Antwort regelmäßig: "Sorry, we can’t provide." Ich halte es für sehr problematisch, dass Youtube und Facebook massiv Werbegeld akkumulieren, den Kunden aber weiterhin keine ausreichenden Belege für die Wirksamkeit ihrer Investments liefern.
Sind Dienstleister wie Markendienst in der Lage, Werbungtreibenden halbwegs verlässlich zu sagen, wie gut Facebook als Werbekanal funktioniert? Ja, durchaus. Als bei Facebook noch externe Untersuchungen möglich waren, haben wir festgestellt, dass die Werbewirkung zwischen 2013 und 2015 signifikant nachgelassen hat. Der Grund war die immer stärkere mobile Nutzung, also flüchtiger und auf kleinen Bildschirmen. Was wir auch wissen, ist, dass die Abbruchquote bei Werbevideos auf Facebook extrem hoch und die Nutzung zumeist äußert oberflächlich ist. Da kann sich jeder selber ausmalen, was das für die Werbewirkung bedeutet. Unseren Kunden empfehlen wir, die unbestrittenen Targetingfähigkeiten von Facebook zu nutzen, um bei laufenden Kampagnen via Experimental-Design Wirkungsnachweise zu erhalten – ganz ohne Zutun von Facebook.
Wird die Werbewirkung von Facebook allgemein überschätzt? Facebook wird schon aus rein statistischen Gründen überschätzt. Unsere Auswertungen ergeben regelmäßig, dass Facebook angeblich selbst dann wirkt, wenn man dort gar nicht geworben hat. Die Ursache: Facebook-Nutzer haben einen überdurchschnittlich hohen Medienkonsum, was zu Abstrahleffekten führt, von denen Facebook profitiert. Ich würde aber nie behaupten, dass die Plattform grundsätzlich nicht funktioniert. Für bestimmte Kampagnenziele leistet Facebook einen relevanten Wirkungsbeitrag.
Mal abgesehen von Google und Facebook: Wie gut kann man im Netz wirklich targeten und tracken? Wenn man es rechtlich konform macht, kommt man mit Cookies schon heute – also auch ohne verschärfte Datenschutz-Regeln – nicht besonders weit. Die eingesammelten Daten haben in der Regel nur begrenzte Aussagekraft und Haltbarkeit, so dass sie in Wirklichkeit kaum belastbar sind. Da helfen dann auch noch so gute Algorithmen nichts, weil die Datenlage einfach nicht viel hergibt.
Die Werbeindustrie läuft Sturm gegen die geplante E-Privacy-Richtlinie. Angeblich wird alles bald ganz furchtbar. Man muss bei den Folgen differenzieren. Aus einer reinen Vertriebs-Perspektive betrachtet wären die Konsequenzen einer Einschränkung beim Retargeting tatsächlich groß. Werbung mit Retargeting ist zwar nur minimal effektiver als ohne, mit Klickraten im Promillebereich, aber bei einem Massengeschäft wie E-Commerce kann das trotzdem den entscheidenden Unterschied machen.
Und bei klassischer Werbung? 60 bis 70 Prozent der Cookies haben heute eine Haltbarkeit von weniger als einem Monat. Wie wollen Sie eine Genauigkeit in Ihrer Kampagnensteuerung hinbekommen, wenn 70 Prozent Ihrer Daten sich innerhalb eines Monats in Luft auflösen? Da können Sie auch würfeln. Tatsächlich ist der Euphemismus "Targeting" wahrscheinlich die erfolgreichste Wortschöpfung der jüngeren Marketing-Geschichte.
Dann ist es ja auch nicht so schlimm, wenn E-Privacy kommt. Doch, weil vor allem Facebook und Google davon profitieren. Auf der anderen Seite wird der Wegfall von Cookies hoffentlich dazu führen, dass die Marketing-Manager sich intelligenter und kreativer mit digitaler Werbung beschäftigen – und nicht mehr ganz so technikverliebt und im Glauben an vermeintlich einfache Lösungen. Wir werden eine Art Reset im Marketing sehen.
Das ist natürlich ein schönes Schlagwort: Das digitale Marketing muss den Reset-Knopf drücken. Wir brauchen jedenfalls ein echtes Umdenken. Erfreulich ist, dass das Interesse an harten Wirkungsnachweisen bei den Werbungtreibenden weiter spürbar zunimmt. Hinzu kommt: Viele Werbungtreibende erkennen nun, dass Sie Media und Marketing nicht mehr so steuern können, wie sie das in den vergangenen zehn oder 20 Jahren getan haben. Die neue Komplexität ist mit den alten Mechanismen einfach nicht in den Griff zu bekommen. Da gibt es momentan sehr viel Bewegung. Das sieht man ja auch an den neuen Agenturmodellen, die die großen Werbungtreibenden etablieren. Wie das ideale Modell für die Zusammenarbeit von Agentur und Werbungtreibenden letztlich aussehen wird, lässt sich heute noch nicht sagen. Ich glaube, wir befinden uns gerade in einer Findungsphase.
Was man aber schon langsam haben sollte, ist eine Antwort auf die Grundsatz-Frage, wie stark die Unternehmen das Daten-Management in die eigenen Hände nehmen sollten. Da kann es aus meiner Sicht keine zwei Meinungen geben. Jedes Unternehmen ab einer gewissen kritischen Größe muss das Ziel haben, eigene Strukturen aufzubauen und die Abhängigkeiten von Dienstleistern zu reduzieren. Es kann nicht sein, dass bei jedem Agenturwechsel die mit eigenem Geld erzeugten Daten wegwandern und man wieder von vorne anfangen muss. Wenn Werbungtreibende nicht in der Lage sind, Daten strukturiert inhouse aufzubereiten und so auch längere Zeitreihen zu analysieren, stehen sie immer wieder ziemlich nackt da. Und das kann sich heute kein Unternehmen mehr leisten.
Noch einmal grundsätzlich gefragt: Wo stehen die Unternehmen beim Groß-Projekt digitale Transformation? Ich glaube, die Diskrepanz zwischen Sein und Schein ist im Marketing so groß wie nirgendwo sonst. Die Marketing-Verantwortlichen laufen immer wieder Gefahr, zu schnell auf Hypes aufzuspringen, um sich auch unternehmensintern mit irgendwelchen Buzzwords zu profilieren. Meine Erfahrung ist, dass oft gerade die Unternehmen, von denen man wenig liest, ganz weit vorne sind, weil sie sich einfach die Zeit nehmen, sich Gedanken zu machen und Themen wirklich zu durchdringen.