Markendienst in FOURSCREEN: MENSCH VS. MASCHINE?
Während Programmatic binnen weniger Jahre zum festen Bestandteil des Media Business geworden ist, richten sich viele Erwartungen bereits auf zwei weitere algorithmisch getriebene Entwicklungen im Marketing: Blockchain und Künstliche Intelligenz.
"Noch hat niemand einer Maschine beigebracht, Regeln zu brechen."
FOURSCREEN hat mit Dr. Christian Bachem, Gesellschafter und Geschäftsführer bei der neuen Berliner Niederlassung der interdisziplinären Strategieberatung MARKENDIENST, über die Trendtechnologien gesprochen und hinterfragt, was diese technischen Entwicklungen tatsächlich für Marketing und Media leisten können.
FOURSCREEN: Je nach Perspektive ist Programmatic, also die algorithmische Bewirtschaftung von Mediainventar, längst etabliert oder noch im Wachstum begriffen. Haben sich in diesem Zuge auch die Versprechungen von Programmatic Advertising als Big Business erfüllt? Oder sind das nur Blütenträume?
DR. CHRISTIAN BACHEM: Laut eMarketer wurde im vergangenen Jahr 78 Prozent der Digitalwerbung in den USA algorithmisch abgewickelt. Zugleich konstatiert Gartner, dass erst 10 Prozent aller Abläufe in der Werbung automatisiert waren.
Wählt man den engen Blickwinkel, der nur auf digitale Werbung fokussiert, so ist der hohe Anteil von Programmatic in den USA keineswegs überraschend. Schließlich beherrscht das Duopol aus Google und Facebook diesen Markt. Und Werbebuchungen bei GooBook werden seit jeher digital gebucht und algorithmisch ausgesteuert. Die Dominanz von Programmatic in den USA ist also weniger Ausdruck der technischen Dynamik als vielmehr Folge der Vormachtstellung von Google und Facebook.
Dessen ungeachtet wird Programmatic auch hierzulande weiter wachsen. Adobe geht – durchaus im eigenen Interesse – davon aus, dass in fünf Jahren 80 Prozent aller Abläufe im Marketing digitalisiert sein werden. Zugleich werden die verbliebenen 20 Prozent sich kaum automatisieren lassen. Sie bleiben Domäne menschlicher Kreativität.
Doch der Grad der Digitalisierung und Automatisierung sagt noch nichts über die erreichte Qualität aus. Tatsächlich haben sich viele Verheißungen von Programmatic bis dato nicht erfüllt.
Weil Programmatic Advertising intransparent, ineffizient und potenziell unsicher ist?
Ja, Programmatic ist strukturell intransparent, weil die Vielzahl der eingebundenen Wertschöpfungsstufen, Marktpartner und Geschäftsmodelle den Durchblick erschwert. Es ist de facto ineffizient, weil die notwendigen Technologien und Tools zur Abwicklung und Qualitätssicherung programmatischer Werbung zusätzliche Komplexität und Kosten erzeugen. Und es ist unsicher, weil sich Werbung längst in einem Dauerzustand des digitalen Wettrüstens befindet, bei dem legitime Marktinteressen und illegale Marktteilnehmer bezüglich Brand Safety und Ad Fraud wahlweise Katz und Maus oder Hase und Igel spielen.
Dies führt im Ergebnis dazu, dass Publisher durch Programmatic Advertising nicht die u.a. von Boston Consulting prophezeiten höheren TKP erlösen können und Werbungtreibende Einbußen bei der Wirksamkeit ihrer Kampagnen in Kauf nehmen müssen.
Programmatic war aufgrund der genannten systemischen Defizite und einzelner vielbeachteter Vorfälle von Missbrauch und Betrug auf dem besten Weg, das Vertrauen vieler Werbungtreibenden zu verspielen. Das Ökosystem der digitalen Werbung wirkte zusehends wie ein Sumpf, aus dem einzig die Walled Gardens von Goobook herausragten. Inzwischen haben Ad Tech-Unternehmen, Agenturen und Industriekonsortien Drainagen gezogen, um sicherzustellen, dass Werbegeld in die richtigen Kanäle fließt, und Dämme angelegt, damit sich Werbekunden möglichst trockenen Fußes und ohne ihre Marken zu beschmutzen engagieren können.
In den letzten Monaten machte auch immer wieder eine andere Idee die Runde: Die Blockchain habe das Zeug, den digitalen Werbesumpf trockenzulegen?
Diese neue Art der verteilten kryptographischen digitalen Buchführung würde sämtliche Betrugsversuche ins Leere laufen lassen und Vertrauensdefizite auflösen. Die Idee ist so bestechend wie illusorisch. Tatsächlich könnte die Blockchain grundsätzlich als betrugssicheres und transparentes Protokoll für Werbe-Transaktionen fungieren. Allerdings gibt es zwei entscheidende und bisher ungelöste Herausforderungen: Der Energieeinsatz und die Geschwindigkeit. Wenn jede Ad Impression blockchainbasiert dokumentiert würde, fielen derart viele Rechenoperationen an, dass der hohe Stromverbrauch bei uns allen alsbald das Licht flackern ließe. Zudem würde jede Dokumentation deutlich länger dauern als die zugrundeliegende Transaktion. Die Blockchain würde am Programmatic Advertising mit seinen Milliarden Transaktionen geradezu zerbrechen. Merke: Was sich für Kryptowährungen und ihr begrenztes, geschlossenes Ökosystem rechnet, lässt sich auf die große Welt des Online Marketing mit ihren unzähligen Bits und Requests bis auf Weiteres nicht übertragen.
Derzeit wird ein weiterer technischer Trend heiß diskutiert: Künstliche Intelligenz. Dabei purzeln, wie so oft bei neuen Themen, Begriffe und Definitionen noch munter durcheinander. Wie relevant ist Künstliche Intelligenz für die Markenkommunikation?
Aus der Perspektive der Informatik steht Künstliche Intelligenz (KI) für Systeme, die aus Daten lernen. Anhand der Datenlage und mithilfe von Algorithmen treffen diese Systeme Ableitungen oder erstellen Prognosen.
Dies ist für die Marketingwelt nichts Neues. Regelbasierte Ableitungen hielten in den Achtzigern im Zuge der Direktwerbung Einzug ins Marketing. Seit dem Aufkommen des digitalen Marketing in den Neunzigern wird hier mit einfachen KI-Anwendungen gearbeitet. Das vielleicht prominenteste Beispiel ist der sprichwörtlich „stalkende Retargeting-Schuh“ – das Werbemittel mit der Sandale, die der Nutzer kaufte oder eben noch nicht kaufte, das diesen so lange kreuz und quer durchs Netz verfolgt, bis es am Ende oft kontraproduktiv für die beworbene Marke ist.
Auch andere längst etablierte Formen des Targeting basieren auf regelbasierten Ableitungen. Prognosemodelle wiederum kommen bereits beim Frequency Boosting (dem gezielten bevorzugten Aussteuern von Werbung an Nutzer mit wenig Kampagnenkontakten) oder bei Programmatic Bidding-Verfahren zum Einsatz.
Ist die digitale Werbung also ihrer Zeit voraus?
Ja und Nein. Denn einerseits existieren durch den Zugriff auf Unmengen von Daten und etablierte algorithmische Abläufe beste Voraussetzungen, um KI wirkungsvoll einzusetzen. Andererseits werden auch die Limitationen im Einsatz von KI offenbar. Die Qualität der Ableitungen und Treffsicherheit der Prognosen eines KI-Systems hängen von der Güte der Daten und der Tauglichkeit der eingesetzten Algorithmen ab. Und daran hapert es bisweilen noch.
So sind Cookie-basierte Nutzerprofile oft derart unscharf, dass Targeting-Algorithmen systematisch ins Leere greifen und Werbung außerhalb der anvisierten Zielgruppe ausspielen. Dies ist bei Lichte betrachtet nicht verwunderlich. Denn Zielgruppendefinitionen bestehen in der Regel aus mindestens zwei unabhängigen Variablen (zumeist Geschlecht und Alter). Für einen Algorithmus ist dies nichts anderes als das Produkt von Fehlerwahrscheinlichkeiten.
Oder verständlich ausgedrückt: Liegt die Chance das Geschlecht korrekt aus den Daten abzuleiten noch bei mindestens 50 Prozent, so ist sie beim Alter deutlich geringer, was zum einen an der höheren Zahl möglicher Altersgruppen liegt und zum anderen an der größeren Schwierigkeit diese cookiebasiert korrekt zu erfassen. Die Wahrscheinlichkeit, sowohl Geschlecht als auch Altersgruppe zutreffend aus Cookie-Daten abzuleiten, ist demnach recht gering – was nicht dem Algorithmus angelastet werden kann.
Marketingdaten jenseits des Fundus der Walled Gardens sind also oft zu unscharf oder auch zu spitz, als dass Algorithmen korrekte Ableitungen oder Prognosen treffen könnten?
Entscheidend ist daher die Frage, wie intelligent Künstliche Intelligenz eingesetzt wird. Wie kann die herausragende Fähigkeit von Maschinen, große Datenmengen in rasender Geschwindigkeit regelbasiert bearbeiten zu können, mit der Kreativität, der Erfahrung und der Entscheidungsfähigkeit des Menschen kombiniert werden?
Hierin liegt sicherlich eine Kernfrage für die Gestaltung des Marketing von morgen. Eines sollte uns beruhigen: Noch hat niemand einer Maschine beigebracht, Regeln zu brechen. Insofern wird der Mensch im digitalen Marketing als Herr über die Künstliche Intelligenz weiterhin die zentrale Rolle spielen.
Die Einzelausgabe des FOURSCREEN Magazin 09/2018 kann unter folgendem Link bestellt werden: